Kategorien

Verstummte Stimmen

„Verstummte Stimmen. Die Vertreibung der ,Juden‘ aus der Oper 1933 bis 1945“ wurde 2006 gemeinsam von dem Hamburger Historiker Hannes Heer, dem Musikjournalisten Jürgen Kesting und dem Gestalter Peter Schmidt realisiert und von der Axel-Springer-Stiftung finanziert.

Die Ausstellung wurde in der Staatsoper Hamburg und der Axel-Springer-Galerie 2006 präsentiert. Es folgten 2008 als Ausstellungsorte die Staatsoper Unter den Linden und das Centrum Judaicum in Berlin sowie die Staatsoper Stuttgart und das dortige Haus der Geschichte.

Nach der Präsentation im Hessischen Staatsarchiv, dem Staatstheater und der Heinrich-Emanuel-Merck-Schule in Darmstadt im Jahr 2009 ist die Ausstellung 2011 an die Semperoper und das Staatsschauspiel Dresden eingeladen. Ab 2012 war die Ausstellung in Bayreuth zu sehen, zuerst im Rathaus und auf dem Gelände der Bayeuther Festspiele. Der Ausstellungsteil auf dem Festspielhügel wurde 2015 zur Dauerinstallation umgewandelt.

 

 

 

Alle Rechte an diesen Fotos liegen bei Stefan Volk /Hamburg, Karlheinz Fuchs / Stuttgart und Hannelore Anthes / Darmstadt.

Zu den Seiten von „Verstummte Stimmen“

 

Zur Einführung

 
Gustav Hartung. Epitaph für einen Vergessenen

Rede von Hannes Heer zur Eröffnung der Ausstellung „Verstummte Stimmen“ in Darmstadt am 6. September 2009

Intendant in Darmstadt

Gustav Hartung, von 1920 bis 1924, und dann noch einmal von 1931 bis 1933 Intendant am Landestheater Darmstadt, hatte 1922 bei Eröffnung des Kleinen Hauses seine Vorstellung von Theater so definiert und sich damit endgültig den Hass großer Teile des konservativen Bürgertums und dessen Presse zugezogen: „Die Kunst ist nicht, wie es leider in völliger Verkennung ihrer Mission immer wieder gefordert wird, ein freundliches Unterhaltungs- oder schönes Erbauungsmittel, die Kunst war in ihren besten Zeiten […] ein Forum, auf dem die Menschheit die Kämpfe, die sie am stärksten bewegten, von ihren Dichtern und Verkündern gedeutet sah.“ Die Art, wie er dieses Konzept als Regisseur auf der Bühne umsetzte, begeisterte die überregionale Theaterkritik und machte ihn zu einem der führenden Regisseure der expressionistischen Zeitstücke wie der großen Klassiker.
„Keine deutsche Provinzbühne von Darmstadts Material und Finanzierung ,“ so bilanzierte 1921 Bernhard Diebold, einer der einflussreichsten deutschen Theaterkritiker in der Frankfurter Zeitung, „darf sich solcher oder nur ähnlicher Leistungen erfreuen, wie sie Hartung hervorbringt“. Er nannte ihn einen „Willensbändiger“ und den „Regisseur der Energie“. Für Kasimir Edschmid war Hartung der „große Zusammenpresser, ein Former nach Tiefe und Profil“. Andere, wie der Kritiker des Hessischen Volksfreunds Dietrich Diestelmann, priesen seine „zähe Energie, die in das Werk hineinsteigt und aus Fläche Plastik macht“, die Fähigkeit, durch die „magische Verklammerung“ der Schauspieler ein Szenengebäude zu etablieren, das „sinnlich wahrnehmbar wird“. Thomas Mann notierte 1932 nach dem Besuch von Hartungs Inszenierung des Oedipe von André Gide: „Ich bin nie stolzer auf Deutschland, nie mehr Patriot, als wenn ich zusammen mit Ausländern in einem deutschen Theater, und zwar gerade in einem Provinztheater, wie noch neulich in Darmstadt sitze.“
Zu diesem Zeitpunkt, angesichts einer völlig veränderten politischen wie ökonomischen Lage, hatte Gustav Hartung die Aufgaben des Theaters noch einmal neu bestimmt: „Heute muss der Spielplan wieder nach Ideen aufgebaut werden, […]. Es müssen Stücke aufgeführt werden, die sich mit der Staats- und Rechtsidee befassen und die in irgendwelchen inneren Beziehungen stehen zu den brennenden Fragen der Zeit.“ Einer seiner Dramaturgen hatte das in der Hauszeitschrift, den Blättern des Hessischen Landestheaters, programmatisch so zugespitzt: In einer Zeit, da „unter dem Ansturm  blindesten Parteihasses auch die letzte Möglichkeit eines gesellschaftlich-staatlichen Zusammenlebens bedroht ist und selbst der Begriff der Heiligkeit des Menschenlebens […] seine Geltung verloren zu haben scheint, […] fällt dem Theater […] die Aufgabe zu, […] das geistige Bild der unzerstörbaren, ewigen Möglichkeiten des Typus Mensch vorzuführen.“ 1933 bedeutete das Ende dieser Welt und die Einsetzung einer neuen, barbarischen Moral.

Hartungs Vertreibung

„Es wird Zeit, dass mit dem Auszug Hartungs endlich wieder deutsche Art ins Hessische Landestheater einzieht, das erhalten wird von den sauer erworbenen Pfennigen schaffender deutscher Menschen, Pfennigen, von denen jeder einzelne zu schade ist für fremdblütige Machwerke und verstaubte Afterkunst hinausgeworfen zu werden.“ Oder: „Man wird sich noch sehr gut der Empörung und Erregung erinnern, in die [1931] weiteste Kreise der Landeshauptstadt und des Hessenlandes durch die Berufung des aus seiner früheren Tätigkeit ‚rühmlichst’ bekannten Herrn Hartung zum Generalintendanten des Landestheaters versetzt wurden. Wie berechtigt diese Empörung gewesen ist, zeigt […] vor allem auch die durch diesen Intendanten betriebene Personalpolitik, die […] jeder Beschreibung spottet: Juden! Juden! Juden!“ Artikel dieser Art erschienen in der zum Naziblatt gewordenen Hessischen Landeszeitung zur Jahreswende 1932/33 täglich und waren die offene Kriegserklärung an den meistgehassten hessischen Theaterleiter: Hartung sollte öffentlich gedemütigt und notfalls mit Gewalt zur Aufgabe seines Amtes gezwungen werden.

In der Stadtratsitzung am 2. Februar 1933 wurde ihm, mit den Stimmen des Zentrums und der Deutschen Volkspartei, die geplante Uraufführung von Bertolt Brechts Die heilige Johanna der Schlachthöfe verboten.

In der Sitzung des Städtischen Theaterausschusses am 6. März, einen Tag nach dem Sieg der NSDAP bei den Reichstagswahlen, den die Partei ausnutzte, um wie überall, auch in Darmstadt die Macht zu übernehmen, wurde Hartung verpflichtet, eine Liste der an seinem Haus beschäftigten Juden vorzulegen.

Einen Tag später erschien im Auftrag des Landtagspräsidenten Ferdinand Werner eine Kommission der Partei, bestehend aus den Abgeordneten Ferdinand Abt und Ernst Stroh sowie den Kammermusikern des Landestheaters Paul Fichtmüller und Otto Drumm und machte dem Intendanten ein Angebot: er könne im Amt bleiben, wenn er sieben von ihm engagierte jüdische und politisch untragbare Künstler, darunter Kurt Hirschfeld, Ernst Ginsberg und Karl Paryla, entlasse und die Planung des Spielplans an die Partei abgebe. Als Hartung das ebenso ablehnte wie den geforderten Rücktritt, drohten die vier Abgesandten, man werde diesen mit „anderen Mitteln […] erzwingen“. Was damit gemeint war, zeigte sich in den folgenden Tagen: die Stillegung des Theaters durch die Sabotage des laufenden Spielplans.

Die am 8. März angesetzte Premiere von Georg Bernard Shaws Komödie Zu wahr, um schön zu sein musste abgesetzt werden, nachdem die SA während der Generalprobe in den Hof des Theaters einmarschiert war. Hartung hatte seine Arbeit wegen des provozierenden Aufmarsches nicht unterbrochen, sondern war erst am Ende der Probe zu einer kurzen Ansprache auf die Bühne gestiegen: „Wir werden dieses Stück nicht mehr herausbringen können, das ist eine Tragödie, nicht nur für das Stück, für uns alle und für Deutschland. Ich bin fest davon überzeugt, dass das nicht lange dauern wird, und wir dieses Stück in Freiheit und Demokratie spielen werden.“

Am 10. März erschien die oben erwähnte vierköpfige Kommission erneut bei Hartung und kündigte für die Abendvorstellung des Fidelio Störungen an, falls er nicht dem als Dirigent vorgesehenen Juden Hermann Adler den Auftritt verbiete. Der Intendant gehorchte, um keine Absetzung der Vorstellung zu provozieren.

Am 12. März besetzte ein starker Trupp SA die Eingänge des Kleinen Hauses und verhinderte so die Vorstellung von Ferdinand Bruckners Die Marquise von O.

Am 13. März, nach der Wahl des Landtagspräsidenten Werner zum neuen Staatspräsidenten erklärte dieser, der amtierende Theaterleiter sei aus politischen Gründen für das neue Regime nicht tragbar. Daraufhin erklärte Hartung, nach Rückkehr von einer Dienstreise nach Zürich, am 14. März in Darmstadt seinen Rücktritt und flüchtete in die Schweiz. Am gleichen Tag ernannten der Theaterreferent des Kultusministeriums Werner Kulz und der von der Regierung mit der politischen Säuberung des Landestheaters beauftragte Kammermusiker Paul Fichtmüller einen höheren Beamten des Theaters zum Interimsintendanten.

Fluchtpunkt Zürich

Aber der abgesetzte Intendant gab auch als Flüchtling keine Ruhe:

Zwei Wochen nach seiner Ankunft, am 3. April 1933, griff Hartung im Schweizer Radio die neuen Machthaber wegen der Vorgänge an den deutschen Theatern heftig an.

Am 3. Juni wies er in den Basler Nachrichten die von den Nazis verbreitete Lüge, er sei als Jude und Kommunist entlassen worden, zurück und benannte die wirklichen Gründe: als Demokrat und von einer demokratischen Regierung zum Theaterleiter berufen, sei er für das NS-Regime nicht mehr tragbar gewesen.

Am 30. November inszenierte er am Zürcher Schauspielhaus die Uraufführung von Ferdinand Bruckners Die Rassen, die erste auf einem Theater erhobene Anklage gegen die seit April 1933 brutal in Szene gesetzte Verfolgung der Juden in Deutschland.

Zwei ehemalige als Juden vertriebene Darmstädter Ensemblemitglieder, der Dramaturg Kurt Hirschfeld und der Schauspieler Ernst Ginsberg, waren an der Aufführung beteiligt. Hartung hatte sie nach Zürich geholt und gerettet. Ginsberg, wegen eines zunächst immer nur auf zwei Wochen befristeten Vertrags permanent von der Ausweisung bedroht, überlebte im Schweizer Exil und wurde dort einer der besten deutschen Schauspieler des 20. Jahrhunderts. Hirschfeld machte das Zürcher Theater in der Folge zum Fluchtpunkt eines Dutzends emigrierter deutscher Künstler und zur bedeutendsten freien deutschsprachigen Bühne Europas. Aber Hartung hatte sich auch um die beiden unmittelbar nach seiner Vertreibung als erste beurlaubten Schauspieler Hermann Gallinger und Karl Paryla gekümmert – er besetzte den Schweizer Gallinger schon im Mai 1933 für seine erste Inszenierung in Basel und holte den Kommunisten Paryla nach dem Anschluss Österreichs 1938 nach Zürich. Eine Verpflichtung seines letzten Bühnenbildners Sigfrid Sebba misslang ebenso wie das geplante Engagement des von ihm geschätzten Beleuchters Christian Schott. Sebba 1933 wegen seiner jüdischen Herkunft entlassen, emigrierte 1936 nach Palästina, wo er sich mittellos und krank durchschlug, bis ihm 1967 Hanna Bekker vom Rath die Rückkehr nach Deutschland und ein würdiges Lebensende in Hofheim/Ts. ermöglichte. Schott hatte man gekündigt, weil er Sozialdemokrat und Betriebsrat war. Nachdem sich die Zürcher Pläne zerschlagen hatten, tauchte er bei einer Wanderbühne unter, bis er eine Anstellung am Hamburger Schauspielhaus fand.

Zwangsarbeit, Exil und Ermordung

Von der Vertreibung der übrigen 24 Mitglieder des künstlerischen Personals, darunter die Opernsänger Fritzi Jokl und Siegfried Urias, die Kapellmeister Erwin Palm und Hermann Adler, der Korrepetitor Arthur Schlossberg, die Schauspieler Hugo Kessler und Jenny Wiener, allesamt jüdischer Herkunft, war Hartung durch neuankommende Flüchtlinge ebenso informiert wie über die aus politischen Gründen erfolgte Massenentlassung von 29 Arbeiter und Angestellten, darunter der Polsterer August Aßmuth. Aber helfen konnte er weder den einen noch den anderen.
Alle diese Säuberungen waren von dem erwähnten Kammermusiker Paul Fichtmüller mithilfe eines mehrheitlich aus Ensemblemitgliedern bestehenden Bereinigungsausschusses vorbereitet worden. Fichtmüller, der schon seit 1929 als verdeckt arbeitender Vertrauensmann der Partei geführt worden war, wurde im Herbst 1933 Landesleiter der Reichsmusikkammer in Hessen. 1937 waren ein Halbjude und drei mit jüdischen Partnern verheiratete Ensemblemitglieder, darunter der Oboist Walter Wunsch, entlassen worden. Das Landestheater war jetzt judenfrei. Diese an allen deutschen Theatern erfolgte Cäsur bedeutete nichts Gutes: Spätestens seit dem Novemberpogrom von 1938 wurde die Lage der Juden im Reich lebensgefährlich. Wer sich nicht mit Hilfe von ausländischen  Verwandten oder Freunden ins Exil retten konnte, dem drohte Zwangsarbeit oder Deportation. Während Fritzi Jokl 1936 in die USA emigrierte und dort als 41-Jährige ihre Karriere beenden musste, wurde der gleichaltrige Bariton Siegfried Urias, der einige Jahre im Jüdischen Kulturbund in Berlin alle großen Opernrollen gesungen hatte, 1939 in ein KZ eingewiesen. Seine nichtjüdische Ehefrau befreite ihn und rettete ihn auch 1941 vor der Deportation. Sein Schicksal: vier Jahre Zwangsarbeiter in Berliner Zement- und Baubetrieben. Erwin Palm hatte nach der Entlassung in seiner Heimatstadt Düsseldorf als Chor- und Orchesterleiter im dortigen Jüdischen Kulturbund gewirkt. Am 10. November 1941 wurde der 41-Jährige zusammen mit anderen Düsseldorfer Juden ins Ghetto Minsk deportiert und dort ermordet. Hermann Adler, zum Zeitpunkt seiner Entlassung 34 Jahre alt, emigrierte in die Sowjetunion und leitete dort das Staatsorchester in Kiew. 1939 floh er nach New York. Sein weiteres Schicksal ist unbekannt. Hugo Kessler, seit 1924 am Landestheater engagiert und einer der wichtigsten, weil überall einsetzbaren Schauspieler, flüchtete 1939 nach Holland. Dort verhafteten ihn 1940 die deutschen Besatzer, verschleppten ihn ins Internierungslager Westerbork und am 4. Mai 1943 nach Sobibor, wo er wenige Tage später ermordet wurde. Die Schicksale der zum Zeitpunkt der Entlassung 23-jährigen Schauspielerin Jenny Wiener und des 24-jährigen Korrepetitors Arthur Schlossberg, der drei schon über 60-jährigen jüdischen Logenschließer Konrad Hartmann, Albert Jonas und Wilhelm Keller wie der beiden Theaterärzte Dr. Kolb und Dr. Oppenheim sind unbekannt.

Der Gejagte

Zum Zeitpunkt, als die ersten ehemaligen Darmstädter Ensemblemitglieder in die Deportationszüge getrieben wurden, war Gustav Hartung selbst längst ein Gejagter. Im Juli 1934, aus Anlass der Wiedereröffnung der Heidelberger Festspiele durch Goebbels und in Erinnerung an den von der SA 1933 ermordeten Berliner Schauspieler Hans Otto, hatte Hartung in einem Offenen Brief die in Deutschland gebliebenen Künstler daran erinnert: „Wer sich vor Mördern und Mordgesellen verbeugt, glorifiziert den Mord und macht ihn zum Vorbild.“ In einem persönlichen Brief an den früheren Freund und jetzigen Star der Festsspiele Heinrich George war er noch deutlicher geworden: „Wer sich vor Mördern verbeugt, wird selbst zum Mörder.“ Goebbels, dem der Schauspieler den Brief vorgelegt hatte, diktierte die Antwort: „Wenn Sie zurückkommen, werden Sie nicht eingesperrt – Sie werden gevierteilt.“
Die Nazis warteten nicht, bis der verhasste Theatermann in ihrer Gewalt war.

Als Hartung 1934 zum Direktor des Berner Stadttheaters gewählt worden war, protestierten auch die Schweizer Fremdenpolizei gegen diesen Beschluss: Sie wollte den radikalen Flüchtling schon lange loswerden. Aber es war die Deutsche Botschaft in Bern, die in Goebbels Auftrag die Annullierung der Wahl erzwang

1936 vom Dritten Reich ausgebürgert und damit staatenlos geworden, schien Hartungs Aufenthalt in der Schweiz endgültig gesichert zu sein, als ihn der Vorstand des Basler Stadttheaters 1937 zum Oberspielleiter wählte. Diesmal antwortete Goebbels mit einem Boykott des Basler Theaters: Reichsdeutschen Künstlern wurden Auftritte in Basel untersagt und dort mit Gastspielverträgen beschäftigten Deutschen entzog man die Pässe. Basel beugte sich dem Druck: Nach zwei Spielzeiten wurde Hartungs Vertrag nicht mehr verlängert.

Der durch die Verfolgung herzkrank gewordene Regisseur musste sich fortan als Schauspiellehrer am Basler Konservatorium durchschlagen. Ganz zuletzt sah es doch noch so aus, als ob im Zusammenspiel von Fremdenpolizei und reichsdeutschem Terrorapparat Hartungs Leben verwirkt sei: Aufgrund einer anonymen Denunziation wurde er im Herbst 1943 wegen angeblichen Affären mit einigen seinen Schülerinnen als Leiter der Schauspielklasse entlassen, verhaftet und im November 1944 zu acht Monaten Gefängnis auf Bewährung und sofortiger Ausweisung verurteilt. Dies Urteil, das seinen Tod bedeutet hätte, wurde am 16. Mai 1945 in eine achtmonatige Bewährungsstrafe mit Internierung umgewandelt.

Nach massiven Protesten erhielt Hartung am 17. Juli 1945 Urlaub aus dem Internierungslager, um seine Rückkehr nach Deutschland zu betreiben. Da die Intendanz im Darmstädter Theater schon mit einem 1933 ebenfalls Vertriebenen, dem ehemaligen Oberregierungsrat im Hessischen Kultusministerium Wilhelm Henrich besetzt war, übernahm Hartung die Leitung der Heidelberger Kammerspiele. Dort ist er am 14. Februar 1946 verstorben.

Die Stunde der Versteckten

In seiner Rede im Basler Radio hatte Hartung am 3. April 1933 diese Prophezeiung  über einen möglichen Neuanfang nach dem Ende Nazideutschlands gewagt: „Die Zurückgeholten werden die verlassenen Arbeitsstätten als ein Trümmerfeld wiederfinden und unter schwereren Bedingungen als zuvor den Wiederaufbau leiten, weil sie in deutscher Kunst zu verwurzelt sind und ihrem inneren Gesetz nach nicht anders können, als für die zu wirken.“ 12 Jahre später, im Sommer 1945, war diese Stunde des Wiederaufbaus für ihn gekommen. Fritz Lieb, ein prominenter Basler Theologieprofessor, den die Nazis 1933 von der Universität Bonn vertrieben hatten und der nach seiner Rückkehr in die Schweiz zu einem der aktivsten Gegner des Dritten Reiches und dessen Infiltrationspolitik geworden war, fragte damals den Emigranten nach dessen Plänen bei der Rückkehr nach Deutschland. Hartung antwortete am 28. Juli 1945: „Theater bedeutet den Deutschen anderes als den meisten Völkern. Es ist ihnen […] ein geistiges Zentrum, an dem sie eigenes Denken und Empfinden entzünden und klären: seit der deutschen Klassik zog das Theater die besten Geister an und es wurde durch sie zum repräsentativen künstlerischen Ausdruck der Nation. Man wird die geistigen Kristallisationspunkte wieder schaffen müssen, wenn die Deutschen aus ihren inneren Verstecken herauskommen und sich vorstellen sollen als das, was sie sind; tut man das nicht, werden sie, nun einmal 12 Jahre an das Verstecken gewöhnt, sich tiefer in charakterlose Eigenschaften verkriechen, und die eigenen wie die alliierten Behörden werden nie wissen, mit wem sie es zu tun haben, und durch Unwissenheit zu verkehrten […] Versuchen kommen.“ Dann praktisch werdend, fuhr er fort: „Bei der Bildung dieser [geistigen Kristallisations] Zentren wird nur in einzelnen Fällen auf in Deutschland lebende Personen zurückgegriffen werden können, aus dem einfachen Grund, weil jeder, der sich geistige Selbstständigkeit bewahrt hatte und die Kraft dazu, sie in Handlungen umzusetzen, umgekommen oder ermordet worden ist.“
Wir wissen, dass dieser Plan einer Wiederbegründung Deutschlands und seiner Kultur durch zurückkehrende Emigranten nicht aufging. 1945 war nicht die Stunde von Gustav Hartung und Carl Ebert, von Joseph Rosenstock und Otto Klemperer, sondern die Chance für die erneuten Karrieren von Gründgens und Sellner, für Böhm und Karajan war. Wir bezahlen immer noch den Preis für diese verhängnisvolle Weichenstellung. Die Ausstellung „Verstummte Stimmen“ will nicht nur an den vergessenen großen Künstler und Kämpfer Gustav Hartung erinnern, sondern auch den Folgen dieser historischen Fehlentscheidung entgegenwirken. Sie will dazu beitragen, dass der bequeme Rückzug in die alten, „inneren Verstecke“ unserer Großeltern- und Elterngeneration in Zukunft verwehrt bleibt, dass die Legenden endlich verstummen
die Kunst habe sich wie eine Insel in der braunen Flut gegen den Ungeist der Zeit behauptet, es sei ja alles halb so schlimm gewesen und irgendwie weitergegangen wie vorher, man habe nichts mitgekriegt von den Entlassungen und den Ermordungen und schließlich: man habe genug erinnert, jetzt müsse die Gegenwart gewonnen und die Zukunft geplant werden.
Wenn dieses Denken siegen sollte, würde die furchtbare Prophezeiung von Karl Kraus sich erfüllen: „Alles was gestern war, wird man vergessen haben, was heute ist, nicht sehen, was morgen kommt, nicht fürchten.“