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Vernichtungskrieg

Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944

Die Ausstellung hat 40 Jahre nach dem Untergang des Dritten Reiches ein Tabu gebrochen: sie zeigte in drei Fallstudien – am Beispiel des Militärverwaltungsbezirks Serbien, des Vormarsches der 6. Armee durch die Ukraine und der dreijährigen Besatzung in Weißrussland – wie die Wehrmacht die Einsatzgruppen der SS bei der Ermordung von 2 Millionen Juden unterstützte, für den Tod von 3,3 Millionen sowjetischen Kriegsgefangener verantwortlich war und in Zusammenarbeit mit Polizei und Waffen-SS außerhalb von Kampfhandlungen mehr als 10 Millionen Zivilisten als „partisanenverdächtig” ermordete, geplant und systematisch verhungern ließ oder zur Zwangsarbeit deportierte.

Die Ausstellung, die im Auftrag von Jan Philipp Reemtsmas Hamburger Institut für Sozialforschung und unter Leitung von Hannes Heer entstanden war, stützte ihre Beweisführung auf die Akten der ehemaligen deutschen Wehrmacht, auf Feldpostbriefe und Materialien aus Nachkriegsprozessen, vor allem aber auf 1433 private Fotos ehemaliger deutscher Soldaten. Sie wurde von Bernd Boll, Hannes Heer, Walter Manoschek, Hans Safrian erarbeitet und von Christian Reuther gestaltet. Am 5. März 1995 in der Kampnagelfabrik in Hamburg eröffnet, wanderte sie anschließend durch 34 deutsche und österreichische Städte und wurde von mehr als 900 000 Besuchern gesehen.

Die Gegner der Ausstellung konnten im Oktober 1999, kurz bevor die Präsentation einer englischsprachigen Version in mehreren Städten der Vereinigten Staaten beginnen sollte, den Rückzug der Ausstellung durch Jan Philipp Reemtsma erreichen. Anlass waren, wie eine Internationale Historikerkommission später feststellte, zwei mit falschen Bildlegenden aus den Archiven übernommene Fotos. Das Hamburger Institut ließ daraufhin eine neue Ausstellung erarbeiten, die als „Konsensausstellung“ außer den Neonazis alle Gegner befriedigte und die Debatte beendete.

Alle Rechte an diesen Fotos liegen bei Sacha Hartgers/Paris.

Zur Einführung

Die letzte Schlacht der alten Soldaten. Wie die Ausstellung über den „Vernichtungskrieg“ der Wehrmacht in den 90er Jahren das Land spaltete.

Abgedruckt in: Hanns-Bruno Kammertöns, Matthias Nass (Hg.), Mein Deutschland. Eine andere Geschichte der Bundesrepublik, Reinbek bei Hamburg 2009, S. 104-109.

Die Nachricht erreichte mich am Morgen des 9. März 1999 im Hafen von Oslo, gerade als ich mit meinem Volvo von der Fähre an Land gerollt war: Ein Anschlag auf die Ausstellung in Saarbrücken, nachts um 4.34 Uhr, eine Rohrbombe mit vier Kilo Sprengstoff an der Rückseite der Volkshochschule gezündet. Es gab erheblichen Sachschaden am Gebäude, zahlreiche Ausstellungstafeln waren von Splittern durchbohrt oder aus ihren Stahlrahmen gerissen. Ich flog sofort zurück. Der Skiurlaub mit meiner Frau musste warten. Über die Urheber gab es keinen Zweifel: Rechtsradikale hatten gegen die Eröffnung der Ausstellung demonstriert, jetzt erklärte ein Bekennerschreiben, man habe deren Fortsetzung verhindern wollen. Seit dem Aufmarsch von 5000 Nazis am 1. März 1997 in München waren solche Demonstrationen unter der Parole „Unsere Großväter und Väter waren keine Verbrecher“ zu einem meist gewalttätigen Ritual geworden. Das Signal dazu hatte der Nazi Manfred Roeder im Sommer 1996 geliefert, als er in Erfurt die Ausstellungstafeln mit der Parole „Lüge“ übersprühte. Aber was sich da am rechten Rand zusammenrottete, in Soldaten- oder Vertriebenenblättern entlud und in anonymen Briefen drohte –„Heer, du gottverdammte Drecksau. Saarbrücken war erst der Anfang. Wir kriegen auch Dich!“ – bildete nicht das Zentrum des Protestes. Wirksamer waren andere: demokratische Politiker, seriöse Medien, staatliche Institutionen. Erst ihr Widerspruch spaltete das Land – vier Jahre lang.

Als die Ausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“ am 5. März 1995 in Hamburg von dem ehemaligen Wehrmachtsoffiziers Klaus von Bismarck eröffnet wurde, begrüßte sie Karl-Heinz Janßen in der Zeit als „die wichtigste historische Ausstellung seit langem”: anstatt der „Legende von der ‚sauberen Wehrmacht’“ werde endlich „die fürchterliche Wahrheit“ offenbar, „die sich gegen eine Mauer einvernehmlichen Schweigens in der deutschen Öffentlichkeit nie durchsetzen konnte.” Die markante Gegenposition bezog, nach monatelangem Schweigen, die Frankfurter Allgemeine Zeitung: sie nannte die Ausstellung ein „Pamphlet”, das einem nach Anlässen süchtigen „Schuldempfinden” entspreche und machte, wie bisher üblich, die SS für die Verbrechen verantwortlich. Zeitgleich ließ ein ehemaliger prominenter Fernsehjournalist unter Ministern und Abgeordneten in Bonn eine Broschüre zirkulieren, in der er die Ausstellungsmacher als „Altkommunisten und Spät-68er” diffamierte, die der Bundeswehr als Nachfolgeorganisation der Wehrmacht schaden wollten. Beide Publikationen hatten politische Folgen: Verteidigungsminister Rühe verbot den Angehörigen der Bundeswehr jeden Kontakt mit der Ausstellung, CSU-Bürgermeister blieben deren Präsentation in ihren Städten fern, in Bremen wäre die Koalition von CDU und SPD fast geplatzt. Zur Eskalation kam es in München, wo die Ausstellung auf Einladung der Stadt im Februar/März 1997 gezeigt wurde. Der Münchner CSU-Vorsitzende Peter Gauweiler höhnte, Reemtsma, der Erbe eines Tabakkonzerns und Financier der Ausstellung, solle lieber seine Millionen dem Andenken der toten Raucher widmen und inszenierte eine nächtliche Kranzniederlegung am Grabmal des Unbekannten Soldaten. Und der Bayernkurier unterstellte uns, wir wollten einen „moralischen Vernichtungsfeldzug gegen das deutsche Volk” führen. Kein Wunder, dass der Kultusminister den Schulen von einem Besuch abriet. Mit dem Aufmarsch der Neonazis erreichte die Kampagne ihren Höhepunkt und ihre Niederlage: Das Votum von 90 000 Besuchern machte die Ausstellung endgültig zu einem bundesweiten Ereignis. Abzulesen war das an der denkwürdigen Debatte des Bundestages am 13. März 1997: Redner aller Parteien versuchten, sich auf ganz persönliche Weise diesem bisher nicht eingestandenen Teil deutscher Schuld zu nähern. Einen Monat später wurde die Ausstellung in der Frankfurter Paulskirche, dem Sitz des ersten deutschen Parlaments eröffnet. Das war, so glaubte ich, der Durchbruch. Als Träger fungierten nun Landtage und Universitäten, Museen und Volkshochschulen, die Eröffnungsreden hielten Botschafter wie Avi Primor und Schriftsteller wie Imre Kertész, künftige Bundespräsidenten wie Johannes Rau und Bundeskanzler a. D. wie Franz Vranicki. Zugleich aber hat mich damals erstmals ein Gefühl der Gefährdung befallen: der Kampf um die Erinnerung wurde mit einem Furor ausgefochten, als ob es die letzte Schlacht der untergegangenen Wehrmacht sei.

Die Ausstellung zeigte anhand dreier Fallbeispiele einen neuen Typ von Krieg, der außerhalb des Völkerrechts und nicht nur um des militärischen Sieges wegen geführt wurde: Es ging um die Eroberung von Lebensraum im Osten und, als Voraussetzung, um die Ausrottung von Millionen für rassisch minderwertig erklärter Slawen und Juden. Die Wehrmacht war daran maßgeblich beteiligt: durch die Ermordung von 3 Millionen sowjetischer Kriegsgefangener, durch Kennzeichnung und Ghettoisierung von mehr als 2 Million Juden, die dann den nachfolgenden SS-Einsatzgruppen zur Exekution überlassen wurden, durch einen mit Polizei und SS gemeinsam betriebenen Besatzungsterror, dem 10 Millionen Zivilisten zum Opfer fielen. Ich habe lange gebraucht zu verstehen, dass der Widerstand gegen diesen wissenschaftlichen Befund kein Ausdruck von Missverstehen, Ignoranz oder Verhetzung war, sondern existentiellere Ursachen hatte. Jutta Limbach, damals Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, hatte dafür in ihrer Eröffnungsrede in Karlsruhe die Formulierung von der „empfindliche Stelle im Gemüt einiger Deutscher“ verwandt und Erhard Eppler sprach bei der Stuttgarter Eröffnung davon, dass die Ausstellung „am Nerv einer ganzen Generation hantiere“. Beide Redner wählten Bilder, die von den Schmerzzonen eines Körpers erzählten und verwiesen damit auf Erlebnisse, die sich tief eingegraben hatten und bei Berührung eine Wunde erkennen ließen. Die Legende von der „sauberen Wehrmacht“, 1945 von prominenten Exgenerälen in einer Denkschrift für den Nürnberger Prozess fabriziert, half, die Wunde unkenntlich und die Scham vergessen zu machen. Bis die Debatte um die Wehrmachtsausstellung das bisherige Selbstbild einer ganzen Generation plötzlich in Frage stellte. Es war die Angst vor diesem Dammbruch, die Helmut Schmidt dazu trieb, Reemtsma und mir einen „autosuggestiven Masochismus gegenüber dem eigenen Land“ zu unterstellen und Alfred Dregger zu seiner düsteren Prophezeiung veranlasste, die Ausstellung wolle „Deutschland ins Mark treffen“: sie zerstöre „den Zusammenhalt unseres Volkes“ und „treibe einen Keil zwischen die Generationen“. Was nach dem Zusammenbruch von 1945 geglückt war – „das Wir zu bewahren“, wie Max Horkheimer diese Tat genannt hatte – dieses Wir löste sich jetzt vor den bedruckten Spanplatten einer didaktisch anspruchslosen Ausstellung auf.

Zuerst meldeten sich in den Gästebüchern die Landser, denen nach 1945 keiner hatte zuhören wollen: „Es stimmt alles. War vom ersten bis zum letzten Kriegstag dabei.“– „War selbst zwei Jahre an der Front in Rußland und kann die hier gezeigten Dokumente aus eigener Anschauung bestätigen.“ – „Leider, leider, es war so!“ – „Ich war Offizier im Mittelabschnitt der Ostfront und übernehme meinen Teil an der Verantwortung.“ Die Sätze brachen aus den alten Soldaten heraus, als ob etwas in ihnen explodiert sei. Viele hinterließen Namen und Adresse, notierten den Jahrgang und den Truppenteil. Manche fügten die Erinnerung an Verbrechen hinzu. Aber es meldete sich auch die verbitterte Mehrheit. Renate Schostack von der FAZ hat den Männern gelauscht, die sich jeden Tag gegenüber der Ausstellung auf dem Münchener Marienplatz trafen, um miteinander zu reden: „Fast immer verlief das nach dem gleichen Muster. Der Sprechende wies auf sich oder zeigte ein Foto: Sehe ich, sieht mein Bruder aus wie ein Verbrecher? Sie erwarteten die Antwort: Nein, Sie sehen nicht aus wie ein Verbrecher. Dann erzählten sie rasch von Greueln, von denen sie gehört oder im Fernsehen gesehen hätten, um sogleich hinzuzusetzen: So etwas haben wir damals nicht gemacht. Danach der dritte Schritt: Wir mußten es ja tun. Man hätte Beichtvater sein müssen, um zu fragen, was sie denn gemacht hätten. Doch niemand nahm diesen Männern die Beichte ab.“ Auch die Kinder der ehemaligen Soldaten ergriffen das Wort, sprachen über das Schweigen, die Andeutungen, die Lügen der Nachkriegszeit, um dann mit der quälenden Frage zu enden: „Vater, wo warst Du?“ Die Ausstellung hatte keinen Keil zwischen die Generationen getrieben, sondern diesen sichtbar nur gemacht.

Spätestens mit München hatte die Ausstellung ihre Richtung verändert. Ich konnte es an der Ausweitung der Begleitprogramme in den Städten ablesen, die mit ihren unzähligen Veranstaltungen einen öffentlichen Resonanzboden für einen Prozess schufen, der sich nicht mehr als wissenschaftliche Debatte beschreiben ließ. Was stattfand, war eine kollektive Selbstverständigung über den mit Beteiligung und Wissen von Millionen Deutschen stattgefundenen Völkermord im Schatten des Krieges. Die Auseinandersetzung verlief so emotional, weil die möglichen Täter vertraute Gesichter und geliebte Namen hatten. Auf jedem der von ihnen selbst geknipsten Fotos konnte einem der eigene Vater begegnen. Die Geschichte der Nazizeit wurde endlich als Familiengeschichte wahrgenommen. Es war, als ob eine Last von mir abfiel. Was mich als Jugendlicher verstört und dann den Bruch mit der Familie verursacht hatte, war die Selbst- Entnazifierung gewesen, die mein Vater als Parteimitglied und Soldat wie Millionen andere vorgenommen hatte: Das Dritte Reich war aus dem eigenen Leben abgespalten und dem Schicksal, den Nazis oder Hitler zugewiesen worden. Keiner war’s gewesen und niemand hatte etwas gewusst. Dieses Auseinanderreißen von großer Geschichte und individuellem Leben war ab jetzt erschwert. Plötzlich schien möglich, was Jean Améry von den Deutschen gefordert hatte – die Nazizeit als unser „negatives Eigentum“ anzunehmen.

900 000 Besucher hatten die Ausstellung gesehen, mehr als 100 deutsche Städte wollten sie noch zeigen, als sie im Oktober 1999 von Reemtsma wegen des Verdachts massenhaft „gefälschter“ Fotos zurückgezogen wurde. Wie die zur Überprüfung eingesetzte Historikerkommission später feststellte, waren bei zwei von 1400 Fotos falsche Bildlegenden aus den Archiven übernommen worden. Jan Philipp Reemtsma hatte wegen des politischen Krawalls in München erstmals die Ausstellung loswerden wollen. Deren danach einsetzende Verwandlung zu einer Art nationaler Wahrheitskommission irritierte ihn. Dass er die Ausstellung nicht ausgehalten und eine neue, für die Gegner akzeptable präsentiert hat, bleibt für mich sein Makel. Aber nur er hatte eine solche Ausstellung ermöglichen und durch seine brillanten Reden immer wieder neu interpretieren können. Das bleibt sein Verdienst.